Bundesgerichtshof hält Regelungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen für teilweise verfassungswidrig

Vorlage ans Bundesverfassungsgericht

Eine 63-jährige Betroffene, die unter einer schizoaffektiven Psychose leidet und deswegen unter Betreuung steht, widersprach der Behandlung ihrer Krebserkrankung. Aufgrund ihrer Erkrankung kann sie inzwischen weder gehen noch sich selbst mittels eines Rollstuhls fortbewegen. Ihre rechtliche Betreuerin beantragte, die Unterbringung der Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung sowie ärztliche Zwangsmaßnahmen zur Behandlung des Brustkrebses zu genehmigen. Sie wies darauf hin, dass die Tumorerkrankung bei einer Nichtbehandlung zur Pflegebedürftigkeit, zu Schmerzen und letztlich zum Tod der Betroffenen führen würde. Die Betroffene selbst könne aufgrund ihrer psychischen Erkrankung die Notwendigkeit der Unterbringung und Behandlung nicht erkennen bzw. ihr Verhalten nicht danach einrichten. 

Nachdem das Betreuungsgericht die Genehmigung verweigerte und das Landgericht die Beschwerde zurückwies, hatte die Berufsbetreuerin Rechtsbeschwerde beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt mit dem Ziel der Genehmigung ihrer Anträge zur Unterbringung und Einwilligung in die ärztlichen Zwangsmaßnahmen.

Der BGH hält die Regelungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen für teilweise verfassungswidrig!

Der BGH setzte das Rechtsbeschwerdeverfahren aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob § 1906 Abs. 3 BGB mit Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) vereinbar sei (Vorlageschluss vom 01.07.2015, Az. XII ZB 89/15).

Es würde gegen den Gleichheitssatz verstoßen, dass eine in stationärem Rahmen erfolgende ärztliche Maßnahme nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB gegen den natürlichen Willen des Betroffenen nur möglich sei, wenn der Betroffene zivilrechtlich untergebracht ist, nicht jedoch, wenn eine Unterbringung ausscheidet.

Diese freiheitsentziehende Unterbringung ist nach dem Gesetz nicht möglich, wenn der Betroffene sich der Behandlung räumlich nicht entziehen kann bzw. will, weil er sich, z.B. wie die 63-jährige Betreute, nicht einmal mittels eines Rollstuhls fortbewegen kann.

Der BGH argumentierte, dass die Regelungen zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen und Unterbringungen auf dem Gedanken des öffentlichen Interesses an der Fürsorge für den schutzbedürftigen Einzelnen beruhen.

Es sei kein hinreichender Grund ersichtlich, solche Betroffene von der Begünstigung der Behandlung auszuschließen, die sich einer dringend erforderlichen stationären Behandlung zwar verweigern, aber räumlich nicht entziehen wollen und / oder können.

Ansonsten würde nur dem noch zum Weglaufen Fähigen eine Unterbringung mit Zwangsbehandlung als Hilfsmaßnahme zuteilwerden. Derjenige, der aufgrund seiner Krankheit sich nicht mehr räumlich entfernen kann, würde auch bei schwersten Erkrankungen keine medizinische Unterstützung erhalten.

Was bedeutet diese Entscheidung für Ihre Betreuungspraxis?

Der BGH hatte am 20. Juni 2012 entschieden, dass es an einer hinreichend bestimmten Rechtsgrundlage für eine Einwilligung des rechtlichen Betreuers in eine zwangsweise medizinische Behandlung des Betreuten fehlte. Daraufhin war am 26.02.2013 die Änderung von § 1906 BGB in Kraft getreten.

Die Prüfung der Verfassungsgemäßheit von § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB wegen eines möglichen Verstoßes gegen Art. 3 GG beruht darauf, dass nach Artikel 3 GG  „wesentlich Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden soll, es sei denn, es gibt einen sachlichen Grund.“

Ein sachlicher Grund dürfte aber zweifelhaft sein, wenn nach dem Gesetz eine Unterbringung bzw. zwangsweise Behandlung demjenigen nicht gewährt wird, der keine Möglichkeit hat, sich räumlich zu entfernen.

Sie sollten bei Ihrer Betreuungspraxis die weitere Entwicklung und die zu erwartende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Blick behalten. Wir werden Sie über unseren Newsletter informieren!

02. September 2015 | Kategorie: Corinna Hell, Urteile |