Betreuungsrecht: ohne Fachliteratur geht es nicht

Annette Loer: „Die gelebte Rechtspraxis ist verbesserungswürdig“

Annette Loer ist Leiterin des Betreuungsgerichts am Amtsgericht Hannover u.a. Autorin im Standard-Kommentar Jürgens Betreuungsrecht. Für ihr ehrenamtliches Engagement beim Frauennotruf für vergewaltigte Frauen wurde die Hannoveranerin 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seit 2005 ist Annette Loer Mitglied einer Besuchskommission und besucht in ihrer Freizeit regelmäßig und unangekündigt Psychiatrien und Heime, um Missstände aufzudecken und die Betreuungsqualität zu verbessern.

In einem Gastbeitrag für den Blog der BeckAkademie Fernkurse erläutert die Richterin am Amtsgericht Hannover zentrale Entwicklungen im Betreuungsrecht. Unter anderem erklärt Annette Loer, warum eine höhere Berufsbetreuervergütung überfällig war und die Rechtspraxis in der Betreuung noch nicht überall auf dem Stand der geltenden Rechtsgrundlagen ist:

Höhere Vergütung für Betreuer – auch zur Qualitätssicherung   

Nach jahrelangem Ringen ist endlich erkannt worden, dass die finanziellen Mittel für die berufliche Betreuung erhöht werden mussten – erstmals seit 2005! Am 27. Juli 2019 traten die Neuregelungen zur Vergütung für berufliche Betreuer in Kraft. Die Vergütung wird um durchschnittlich 17 Prozent erhöht, fällt aber gerade für die Betreuung von dauerhaft schwierigen Klienten unterdurchschnittlich aus.

Viele in der Betreuung Tätige halten die Erhöhung ohnehin nicht für ausreichend. Mehr war aber politisch nicht zu erreichen. Die Vergütung wird überwiegend aus den Justizhaushalten der Länder finanziert. Nur ein kleiner Teil der Betreuten muss selber für die Kosten aufkommen.

Auch wenn schon allein die gestiegenen Lebenshaltungskosten der vergangenen 14 Jahre ausreichender Grund für eine Erhöhung dargestellt hätten, so ist immer auch die Verbindung mit Fragen der Qualitätssicherung zu stellen. Denn: Berufliche rechtliche Betreuung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen darf sich nicht zur bloßen Verwaltung vom Schreibtisch zurückentwickeln.

Das ist umso wichtiger, weil die Praxis der rechtlichen Betreuung und die Anforderungen an die Akteure in den Jahren seit der Reform von 1992 eine deutliche Veränderung erfahren haben: Von der Entmündigung über die Fürsorge zur Selbstbestimmung. Die Betreuung verhilft Menschen zu ihren Rechten und hat dabei zu berücksichtigen, was diese wünschen und wie sie selber ihr Leben gestalten wollen. Das ist alles andere als einfach. Außerdem bietet die Betreuung rechtlichen Schutz. Diese Grundsätze sind unter anderem gegenüber Behörden, Banken, Vermietern, Ärzten, Pflegenden und auch Angehörigen geltend zu machen.

Entwicklungen in der Rechtsprechung und das Recht auf Selbstbestimmung

Es gibt eine Fülle höchstrichterlicher Rechtsprechung, die zum Teil zu Gesetzesänderungen geführt hat. Hinzuweisen sei insbesondere auf die Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Durchführung von ärztlichen Zwangsmaßnahmen nach § 1906a BGB. Aber auch die Aufhebung des Wahlrechtsausschlusses für Betreute mit sämtlichen Angelegenheiten, die Anforderungen an Fixierungsmaßnahmen sowie die Änderungen der Unterbringungsgesetze der Länder haben Auswirkungen auf die rechtliche Betreuung.

Genauso wie die UN-Behindertenrechtskonvention. „Assistenz vor Vertretung“ oder „unterstützende Entscheidungsfindung statt ersetzende Entscheidung“ sind hier die Stichworte. Betreuungsgerichte, Berufs- und Vereinsbetreuer, Betreuungsbehörden und viele weitere Beteiligte haben sicherzustellen, dass das Recht auf Selbstbestimmung gewahrt und gefördert wird.

Leider ist dies noch immer nicht selbstverständlich. Die gelebte Rechtspraxis ist in weiten Teilen verbesserungswürdig. So wird zum Beispiel noch immer in § 1901 BGB, der Magna Charta des Betreuungsrechts, das Wohl der Betreuten objektiv verstanden; die unsägliche Formulierung „jemand steht unter Betreuung“ ist aus dem Sprachgebrauch nicht wegzukriegen (auch nicht aus den Köpfen?); Ärzte glauben, nur die Betreuer dürften eine Einwilligungserklärung abgeben etc.

Die Rechtswirklichkeit ist noch nicht überall auf dem Stand der geltenden Rechtsgrundlagen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung. „Law in books“ ist von „law in action“ mitunter weit entfernt. Auch wenn – zum Glück – viele Nichtjuristen auf dem Gebiet der rechtlichen Betreuung tätig sind, müssen sie sich doch für eine qualitativ gute Betreuung mit den Rechtsgrundlagen auseinandersetzen. Dafür reicht selbst ein Blick ins Gesetz nicht aus. Erläuternde Literatur ist auf jeden Fall hilfreich.

Mehr von Annette Loer lesen Sie in:

 

Jürgens: Betreuungsrecht – der führende Kommentar zum Betreuungsrecht aus dem Verlag C.H.BECK. Dieses auch für Nichtjuristen verständliche Nachschlagewerk schafft Klarheit zu allen Fragen rund um Betreuung, Geschäftsfähigkeit, Willenserklärung, Vertretung, Vollmacht, Einwilligung und Genehmigung.

Das Ende Juli 2019 in Kraft getretene Gesetz zur Abpassung der Betreuer- und Vormündervergütung ist bereits vollständig berücksichtigt.

05. September 2019 | Kategorie: Aktuelles |